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Channel: schattentiere
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Too Much Information

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Was mich verwirrt: Wenn Menschen sagen, dass sie es gar nicht so genau wissen wollen. Immer, wenn’s gerade interessant wird, verlangt nämlich jemand: „So genau will ich das gar nicht wissen.“ Oder die Person zieht so komisch den Mund schief, wedelt mit den Händen herum und ruft „Too much information!“. Das verstehe ich nicht. Das Konzept von zu ausführlicher Information bleibt mir fremd. Ärger, Frustration oder Verzweiflung über magere Fakten – oh ja, absolut nachvollziehbar. Unvollständige Zahlen und Daten sind schrecklich. Aber andersrum? Leuchtet mir einfach nicht ein. 

Ich will alles wissen: Wer wie lange und wie oft mit wem Sex hat, ob andere dabei auch manchmal komische Sachen denken, ob Leute zufrieden mit ihrem Gehalt sind und wie hoch ihr Gehalt genau ist und was die Kolleg*innen verdienen, ob jemand an Gott glaubt und wenn ja, an welchen, ich will wissen was in der Kindheit schief lief und ob nach der Geburt des eigenen Kindes irgendeine Form mütterlicher Inkontinenz auftrat, ich möchte Details über chronische Darmerkrankungen wissen und ob einer Büromaterial klaut. Mir ist selten eine Information zu peinlich oder zu ausführlich, sofern ich ein grundsätzliches Interesse am Thema oder am dazugehörigen Menschen habe.

Dass das nicht „normal“ ist, weiß ich schon länger. Während es mich früher einfach nur irritierte, dass nicht jede*r alles wissen will, ordne ich es heute dieser gewissen autistischen Detailversessenheit zu. Sobald mich eine Sache fasziniert, will ich ihr auf den Grund gehen – und die Natur des Menschen fasziniert mich außerordentlich. Das ist so, seit ich mich erinnern kann. Immer schon wollte ich herausfinden, wie Leute funktionieren: Warum sie etwas tun, wie sie es tun, was sie dabei denken oder fühlen. Diese Fragen stelle ich mir unwillkürlich auch mal laut, und dann wird es seltsam. 

Zum Beispiel war ich einmal mit Kolleginnen Mittagessen, als ich etwa im 6. Monat schwanger war. Ich bemerkte den persistierenden Blick eines Mannes vom Nachbartisch. Mein Bauch war nicht zu sehen, ich saß ja. Als ich aufstand, guckte der Mann regelrecht schockiert weg. Und nicht wieder hin. Aha, schwangere Frauen sind offenbar keine attraktive Zielgruppe, dachte ich, und sagte zu meinen Kolleginnen: „Wisst ihr, was mich wirklich interessieren würde? Wenn ich heute Abend in eine Bar ginge, auf der Suche nach nach einem One-Night-Stand, würde ich da wohl fündig? Und wenn ja, was wäre das für ein Typ, der mit einer sichtlich schwangeren Frau nach Hause geht? Was würde er dabei denken? Hätte der zwangsläufig einen Bauchfetisch? Was wäre seine Motivation?“ 

Die Kolleginnen guckten mich großäugig an. Zu lange sagte niemand etwas. „Glaub mir, das willst du nicht so genau wissen“, sagte eine (dieser Satz schon wieder!). Eine andere versicherte mir, ich sei trotz dickem Bauch noch schön und bräuchte nicht auf diese Weise nach Kolleginnenbestätigung zu fischen. Ich glaube, das Missverständnis hätte nicht größer sein können. 

Es gibt vom Alles-wissen-wollen aber auch Ausnahmen: Details über Gewalt gegen Kinder möchte ich zum Beispiel keinesfalls erfahren. Denn all diese Informationen übersetzt mein Kopf sofort in sehr plastische Bilder. Und die bleiben für immer da drin. Generell ist für mich der Missbrauch von Schwächeren eine so schreckliche Vorstellung, dass ich sofort in einen Overload und schlimmstenfalls in einen Meltdown komme, weil ich diese Bilder auf keiner Ebene verarbeiten kann. 

Dazu reichen unter Umständen schon kleine Trigger, wie ein Faltblatt des Familienministeriums, das mit Zeichnungen zeigt, wie man die Zeichen körperlicher Gewalt an Kindern erkennt. Ich will zwar wissen, was ich unterstützend tun kann, wie man hilft – und ich bin froh, dass ich mir dieses Faltblatt angesehen haben – aber die furchtbaren Einzelheiten ertrage ich kaum. Da bekomme ich das, was meine Mutter einen hysterischen Anfall nennt. Der hilft am Ende niemandem.

Es gibt also auch für mich eine Kategorie von „Too much information“. Alles andere schockiert mich jedoch kaum. Und manchmal habe ich den Eindruck, dass andere Menschen das irgendwie wittern: Regelmäßig finde ich mich bei Veranstaltungen aller Art in einer Ecke wieder, belagert von einer fremden Person, die mir intime Ausschnitte ihrer Lebensgeschichte offenbart. Umgekehrt weiß ich selbst nicht genau, welche Informationen über mich in einem Gespräch wohl angebracht sind (überhaupt erschließt sich mir das Konzept von „angebracht“ oft nur mühsam).

Es wird jetzt niemanden überraschen, wenn ich sage: Gelegentlich gerate ich dadurch in peinliche, gefährliche oder sonstwie nachteilige Situationen. Andererseits führe ich aber ziemlich oft gute Gespräche, weil viele Menschen schnell merken, dass sie ihre Fassade bei mir nicht brauchen. In den besten Momenten entsteht ein leicht bizarrer Gleichklang menschlicher Realness, und am Ende gehen alle mit dem Gefühl nach Hause, dass sie schon ganz okay sind. Das sind die Augenblicke, in denen ich mich ganz und gar normal fühle.


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